Der Schweizerische Gewerbeverband (sgv) hat die kantonalen Sektionen eingeladen, zum Vertragspaket Bilaterale III Stellung bis Ende September zu nehmen. Ende Oktober wird dann die Gewerbekammer des sgv auch aufgrund dieser Positionierungen eine Haltung definieren. Der Vorstand des KMU- und Gewerbeverband Kanton Luzern (KGL) hat entschieden, sich in der Vernehmlassung zu positionieren. Als Bewertungs- und Vergleichsmassstab nutzt der KGL für sein Positionspapier die vom sgv festgelegten «roten Linien» zum institutionellen Abkommen von 2021. Ebenso werden die spezifischen Strukturen der Luzerner KMU-Wirtschaft gewichtet. Der KGL beurteilt aus einer überblickenden, wirtschaftspolitischen Sichtweise, aber auch aus staatspolitischer Perspektive. Staatspolitisch deshalb, weil die Luzerner KMU-Wirtschaft mit ihrer Vielzahl von kleinen Betrieben viel stärker auch als Bürgerinnen und Bürger betroffen ist als grosse Betriebe.
Rote Linien werden ganz oder teilweise überschritten
Der Vorstand des KGL anerkennt die strategische Notwendigkeit, die Beziehungen zur Europäischen Union auf eine stabilere und zeitgemässe Grundlage zu stellen. Die Schweiz muss als kleines Land mit ausgeprägter KMU-Wirtschaftsstruktur ganz grundsätzlich die Aussenbeziehungen stetig weiterentwickeln. Und die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz. Das Vertragspaket Bilaterale III wertet der KGL als Teil solcher Weiterentwicklungen. Gegenüber dem gescheiterten institutionellen Rahmenabkommen (Insta) von 2021 sind in zentralen Dossiers deutliche Fortschritte erkennbar. Gemessen an den roten Linien des sgv, dies dieser zur Beurteilung des Insta gesetzt hatte, gehen die Verbesserungen indes klar zu wenig weit. Die roten Linien werden weiterhin mehrheitlich ganz oder teilweise überschritten: Bei den flankierenden Massnahmen, der dynamischen Rechtsübernahme, im Streitbeilegungsmechanismus, der Unionsbürgerrichtlinie oder bei den staatlichen Beihilfen. Eingehalten wird die rote Linie bei den Vertragsrichtlinien: Die strittige Guillotine-Klausel ist durch ein graduelles Sanktionssystem ersetzt worden, diese Modularität ist eine klare Verbesserung.
Bruch durch dynamische Rechtsübernahme
Am kritischsten beurteilt der KGL-Vorstand die dynamische Rechtsübernahme. Sie bedeutet einen Bruch mit der bisherigen Praxis, wonach die Schweiz neues EU-Recht nicht automatisch übernimmt. Der Schweiz soll künftig nur noch ein Anhörungsrecht ohne echte Mitsprache gewährt werden. Und die Streitbeilegung zum EU-Recht wird letztinstanzlich dem Europäischen Gerichtshof (EUgH) überlassen. Dieser substanzielle Verlust an Selbstbestimmung wiegt schwer. Denn die Selbstbestimmung ist ein zentrale, über Generationen erarbeitete und bewährte Errungenschaft der direkten Schweizer Demokratie.
Chancen und Risiken für die Luzerner Wirtschaft
Für den Kanton Luzern und seine KMU zeigt sich mit den Bilateralen III ein gemischtes Bild: Mehr Stabilität im Aussenverhältnis und verlässlicher Marktzugang – zum Preis engerer regulatorischer Kopplung. Einerseits eröffnet das Paket Rechtssicherheit im Exportgeschäft, erleichtert die Anerkennung von Normen und sichert weiterhin den Zugang zu Fachkräften aus dem EU-Raum. Das sind zentrale Standortfaktoren für eine Region mit einem systemrelevanten Export-Anteil, insbesondere für die grossen Sektoren Bauwirtschaft, Maschinenbau/Industrie, Gesundheitswesen und Tourismus. Andererseits wächst mit der engeren Bindung an EU-Recht der Regulierungsdruck spürbar – und zwar über die heute bereits praktizierte Orientierung an EU-Normen hinaus. Gerade kleine und mittlere Unternehmen sehen sich zunehmend mit einer Vielzahl an Vorgaben konfrontiert. Und mit den Bilateralen III wird die Belastung in der Tendenz weiter zunehmen.
KGL fordert echte Mitwirkung und KMU-gerechte Mechanismen
Aufgrund seiner Abwägungen vertritt der KGL-Vorstand eine kritisch-pragmatische Haltung. Der KGL anerkennt Ziel und Richtung des Abkommens und gewichtet die Tatsache, dass es sich beim Vertragspaket um einen von beiden Seiten gefundenen Kompromiss handelt. Es ist nicht einfach ein Diktat aus Brüssel, sondern enthält auch greifbare Erfolge der Schweizer Verhandlungsführenden, beispielsweise im Bereich des Lohnschutzes. Gleichwohl überwiegt die Skepsis, ob der Preis mit dem erheblichen Verlust an institutioneller Eigenständigkeit nicht zu hoch ausfällt. Die Regelungen zur dynamischen Rechtsübernahme mit einer dominanten Rolle des EuGH und die drohende Überregulierung erachtet der KGL als problematisch. Unter diesen Umständen ist eine Befürwortung für das Vertragspaket als Ganzes nicht denkbar. Gleichzeitig darf die Frage, was bei einer Ablehnung der Bilateralen III oder eines Teils davon geschieht, nicht ausgeblendet werden. Ein Nein birgt das nicht unerhebliche Risiko von Repressalien seitens der EU, wie wir es etwa im Bildungs- und Forschungsbereich (Horizon) oder auf dem Finanzplatz (Börsenäquivalenz) bereits erlebt haben.
Der KGL-Vorstand fordert Nachbesserungen und Präzisierungen im Vertragspaket, namentlich mehr echte Mitwirkungsrechte, Selbstbestimmung durch den Schutz der direkten Demokratie, KMU-gerechte Umsetzungsmechanismen und eine Sicherung der flankierenden Massnahmen. Kommen Bundesrat und die Eidgenössischen Räte diesen Anliegen substanziell nach, wäre der KGL bereit, das Paket zu unterstützen. Bleiben die Defizite bestehen, hätte er grosses Verständnis für eine ganze oder in Teilen ablehnende Haltung des Pakets in der Volksabstimmung. Zudem ist für den KGL zentral, dass angesichts der verfassungsrechtlichen Implikationen des Vertragspakets in der geplanten Abstimmung Volks- und Ständemehr zählen. Fazit: Marktzugang und Rechtssicherheit sind für die Schweizer Wirtschaft sehr wichtig, dürfen aber nicht zum Preis einer unverhältnismässigen Aushöhlung der Selbstbestimmung und eines überbordenden administrativen Aufwands für die KMU erkauft werden.
Downloads