Charles Vincent, warum lancierte der Kanton Luzern vor 15 Jahren das Projekt «Schulen mit Zukunft»?
Nach Abschluss des Projekts «Schulen mit Profil», bei dem es in erster Linie um die Entwicklung der Schulorganisation und die Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden ging, haben wir bei «Schulen mit Zukunft» das Augenmerk auf den Unterricht gelegt. Und wenn ich «wir» sage, dann meine ich nicht nur die Dienststelle Volksschulbildung, sondern auch die vier Partnerorganisationen, die uns bei diesem Prozess kompetent und konstruktiv begleitet haben: die Gemeinden, die Bildungskommissionen, die Schulleitungen und die Lehrpersonen.
Im Oktober wurde das Projekt offiziell abgeschlossen. Wurden die gesteckten Ziele erreicht?
Ja. Die Einführung des Lehrplans 21 ist noch im Gang und verläuft bisher ohne Komplikationen. Die Basisstufe kann von den einzelnen Schulen bei Bedarf selbständig realisiert werden. Zudem verfügen alle Schulen über die Integrative Förderung und praktisch alle über die Schulsozialarbeit. Weiterer Entwicklungsbedarf besteht hingegen bei den Tagesstrukturen, da immer mehr Familien auf ein bedarfsgerechtes Angebot angewiesen sind.
Die Integrative Förderung ist in der Bevölkerung teils umstritten. Sind Sie immer noch überzeugt, dass es der richtige Weg ist?
Die Idee des schulfreien Samstags stiess in den 90er-Jahren ebenfalls auf grossen Widerstand, heute stellt das niemand mehr in Frage. Neuerungen brauchen immer etwas Zeit, um die nötige Akzeptanz zu erhalten. Für mich ist die Integrative Förderung der einzig mögliche Ansatz, um der wachsenden Vielfalt der Lernenden im Unterricht gerecht zu werden. Homogene Klassen, in denen alle Schüler auf dem gleichen Niveau sind und gleich schnell vorwärtskommen, sind in der heutigen Zeit nicht mehr realistisch. Heute muss jeder Lernende individuell gefördert werden und es müssen Gemeinschaftserlebnisse beim Lernen ermöglicht werden.
Bleiben die guten Schüler dabei nicht auf der Strecke?
Nein. Die Ergebnisse von Evaluationen zeigen, dass auch hochbegabte Lernende vom integrativen Unterricht profitieren. Ausserdem haben wir verschiedene Zusatzangebote für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler initiiert. Zum Beispiel die Ateliers für Hochbegabte oder die BM SEK+, die in der 3. Sekundarschule Teile des späteren Berufsmatura-Unterrichts vorzieht.
In den letzten Jahren musste die Volksschule immer mehr erzieherische Aufgaben übernehmen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Gewisse erzieherische Aufgaben hat die Volksschule schon immer wahrgenommen: Ruhig sitzen lernen, ans Arbeiten gewöhnen, im Team funktionieren. Die Selbst- und Sozialkompetenzen haben heute einfach einen höheren Stellenwert. Das gilt auch für die Vorbereitung der Jugendlichen auf den Eintritt in die Berufswelt. Hierzu pflegt die Dienststelle Volksschulbildung einen regelmässigen Austausch mit dem KMU- und Gewerbeverband.
Wie bereitet die Volksschule denn die Kinder und Jugendlichen auf die Berufswelt vor?
In den vergangenen Jahren haben wir die Nahtstelle am Ende des 9. Schuljahrs intensiv bewirtschaftet. Zum Beispiel mit der Einführung von Stellwerk 8 und 9, einem Instrument, das das aktuelle Leistungsvermögen der Schüler aufzeigt. Weiter haben wir Berufsbotschafter in den Berufswahlprozess integriert. Dadurch werden die Schüler besser für die Arbeitswelt sensibilisiert. Schliesslich bereitet auch der Lehrplan 21 gut auf die Arbeitswelt vor. Berufswahlunterricht und Kompetenzorientierung, die die Wirtschaft schon lange kennt, sind hier offiziell verankert.
Ende Jahr gehen Sie nach über 34 Jahren als Dienststellenleiter in Pension. Wie werden sich die Luzerner Volksschulen nach der Ära Vincent entwickeln?
Um zeitgemäss und innovativ zu bleiben, muss sich die Volksschule immer wieder den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen anpassen. Die Arbeitswelt der Zukunft erfordert zum Beispiel verstärkte digitale Kompetenzen und mehr Eigenverantwortung. Dem muss die Volksschule mit geeigneten Angeboten gerecht werden. Zum Beispiel mit selbstgesteuertem Lernen oder mit der sozialraumorientierten Schule. Dieses Konzept betrachtet die einzelne Schule nicht mehr isoliert, sondern als eine in ihrer Gemeinde oder ihrem Quartier verwurzelte Institution, die einerseits Angebote für das Umfeld erbringt, andererseits von den Fachpersonen des Quartiers profitieren kann.