Passt die Personenfreizügigkeit für die Schweiz? Ein verbaler Schlagabtausch

Zehn Millionen Einwohner in der Schweiz bis 2050? Ein Szenario, das die Bevölkerung in Zeiten hoher Zuwanderung bewegt. Und zur Frage führt, was die Personenfreizügigkeit mit der EU und der Efta unserem Land bringt. Mehr Wohlstand für alle? Oder überwiegen die Nachteile für einen ausgebauten Sozialstaat? Dieses kontroverse Thema diskutierten zwei Wirtschaftsexperten, die wir in KI generierten Bildern als Boxer zeigen, an der Impulsveranstaltung LUZERN 24. Ihre Argumente bilden wir in einem Pro und Kontra ab.

Veröffentlicht am

Pro:

Boris Zürcher

Für den 59-jährigen Berner, der seit 2013 die Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) leitet, überwiegen die Vorteile der Personenfreizügigkeit. Im Auftrage des Bundes verfolgt er die Auswirkungen des freien Personenverkehrs auf den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen. Davor arbeitete er unter anderem als Berater für die Bundesräte Pascal Couchepin und Joseph Deiss sowie für die Bundesrätin Doris Leuthard.

Kontra:

Christoph Schaltegger

Der 51-jährige Basler sieht die hohe Zuwanderung in die Schweiz kritisch und hält das Konzept der Personenfreizügigkeit mit der EU und der Efta für nicht zielführend. Er ist Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern und forscht zu Fragen rund um das Thema öffentliche Finanzen. Auch er diente in der Vergangenheit als Berater eines Schweizer Magistraten – nämlich von Hans-Rudolf Merz.

KGL-Direktor Gaudenz Zemp fungierte im Boxring auf der Bühne als Ringrichter.

Demografische Wende zwingt die Schweiz zum Wachstum

Ohne Zuwanderung wäre die Bevölkerung in der Schweiz seit der Corona-Krise um 10’000 Menschen geschrumpft. Das ist der demografischen Wende in unserem Land geschuldet – über 50-Jährige machen einen Drittel der Bevölkerung aus. Die Personenfreizügigkeit löst den Fachkräftemangel nicht, aber sie hilft dabei, unsere Pensionskassen- und Rentenverpflichtungen und unseren Wohlstand zu erhalten.

Wegen unseres grosszügig ausgestalteten Sozialsystems unterliegen wir einem Wachstumszwang.
Boris Zürcher, Direktor Arbeitsmarkt beim Seco.

>PRO  

Wer 80’000 Personen als Netto-Zuwanderung ausweist, vermischt zwei Dinge. Die Zuwanderung über die Personenfreizügigkeit betrug im letzten Jahr rund 57’000 Menschen. Der andere Teil waren Flüchtliche, die nicht in die Schweiz gekommen sind, um zu arbeiten. Diese beiden Zahlen gilt es voneinander zu trennen.

Zugegeben: Wir haben im Moment eine hohe Zuwanderung, allerdings ist die News dazu eine gute: Die Konjunktur in der Schweiz ist eine fantastische. Seit der Corona-Krise wurden bei uns 280’000 Stellen geschaffen, davon alleine 50’000 im Gesundheitswesen. Im gleichen Zeitraum hat die Schweizer Bevölkerung um 10’000 Personen abgenommen. Dies, weil wir uns in einer demografischen Wende befinden. Wir müssen perspektivisch an unsere Kinder und Alten denken: Die Pensionskassen- und Rentenverpflichtungen, die wir eingegangen sind, gilt es zu honorieren. Das braucht Wachstum, sonst bleibt denen, die sich im Arbeitsprozess befinden, ein immer kleiner werdendes Stück vom Kuchen. Wegen unseres grosszügig ausgestalteten Sozialsystems unterliegen wir einem Wachstumszwang.

Schweizer müssen mehr arbeiten
Korrekt ist, dass das Problem des Fachkräftemangels nicht ausschliesslich über die Zuwanderung gelöst werden kann. Deshalb gilt: Soviel Zuwanderung wie nötig und so wenig wie möglich. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass wir unser einheimisches Potenzial ausschöpfen müssen. Dass mehr gearbeitet wird – das betrifft vor allem Eltern und Frauen. Und dass die Schweizer Belegschaft sich besser qualifiziert.

Hervorragende Produktivität
Unser Land profitiert von der Zuwanderung. Die von Unternehmen rekrutierten Menschen übernehmen einen Arbeitsplatz, und weil sie im Durchschnitt recht gut qualifiziert sind, zahlen sie relativ hohe Steuern. Das ist mit ein Grund, warum Bund und Kantone in den letzten Jahren nicht am Hungertuch nagen mussten. Es war alles finanzierbar, was sich das Stimmvolk gewünscht hatte. Die Produktivität der Schweiz ist seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 hervorragend, insbesondere im Vergleich zu den 1990er Jahren und trotz der Krisen, die wir seither durchliefen (Dotcom-Blase, Finanzkrise, Frankenstärke und Pandemie). Die Löhne sind jährlich um ein Dreiviertel Prozent gestiegen.

Eine Zuwanderung in unser Sozialversicherungssystem findet nicht statt. Ausländische Arbeitskräfte sind nicht selten in Bereichen wie der Gastronomie tätig, in denen es saisonale Schwankungen gibt und das Risiko der Arbeitslosigkeit erklärbar höher ist. Im Vergleich zu den umliegenden Ländern sind wir deutlich reicher. Die Personenfreizügigkeit ist wegen des Dichtestresses, des Immobilienmarktes und der Infrastrukturbelastung nicht perfekt, aber alternativlos.

 


 

Der ausgebaute Sozialstaat muss geschützt werden

Die Personenfreizügigkeit funktioniert für die Schweiz mit ihrem ausgebauten Sozialstaat nicht. Sie hat den Fachkräftemangel nicht gelindert, sondern verschärft. Das heisst: Unser Zuwanderungsregime mit Familiennachzug ist nicht effizient. Im Sinne der Kostenwahrheit braucht es für die Vermögenswerte, die unser Staat gratis zur Verfügung stellt, eine Art Kurtaxe für ausländische Arbeitskräfte.

Langfristig können wir das Leistungsniveau nicht halten, weil die Personenfreizügigkeit nicht finanzierbar ist
Christoph Schaltegger, Direktor IWP an der Uni Luzern.

>Kontra

Seit 2003 wuchs die Schweiz Jahr für Jahr um die Grösse der Stadt Lugano. Aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal wollen alle Arbeitskräfte zu uns kommen. Das ist ein gutes Zeichen für die Attraktivität unseres Landes. Nur: Der Fachkräftemangel hat in diesen 20 Jahren durch die Personenfreizügigkeit nicht abgenommen – er hat sich verdreifacht! Das heisst: Irgendwo gibt es ein Problem. Das Problem ist, dass der Steuerungsmechanismus, den wir haben, nicht funktioniert. Der Steuerungsmechanismus ist die Personenfreizügigkeit und der Arbeitsmarkt steuert die Zuwanderung.

Jede Person, die einen Job in der Schweiz bekommt, kann mit seiner Familie kommen. Die Zuwanderung deckt also nicht nur das Angebot ab, sondern verstärkt gleichzeitig die Nachfrage. Den Staat, der rund 40 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts ausmacht, stellen wir gratis zur Verfügung. Und wir kaufen uns  Zusatzkosten ein, die wir selber tragen und nur zum Teil den Zuwanderern übertragen. In der Praxis heisst das: Es gibt Dichtestress, übermässigen Flächenverbrauch mit Renditebauten, eine Erosion der Arbeitsmoral und einen Sogeffekt in die Sozialversicherungssysteme. Unser Zuwanderungsregime ist nicht effizient.

zauberwort ist kostenwahrheit
Die Zuwanderung ist richtig, wenn sie dazu dient, der Alterung unserer Bevölkerung entgegenzuwirken. Aber wir würden nicht über das Szenario einer 10-Millionen-Schweiz reden, wenn es nur darum ginge. Das jährliche Bevölkerungswachstum in der Grösse Luganos macht uns fett und träge.

Kostenwahrheit ist in allen Bereichen der Politik das Zauberwort. Die Personenfreizügigkeit stellt keine Kostenwahrheit her. Mit ihr haben wir ein Wachstum in der Breite produziert. Die Zuwanderung mit Familiennachzug sorgt für einen grossen Landverbrauch und für einen Verschleiss der Infrastuktur. Das fliesst alles positiv ins BIP. Das Resultat liest sich zwar positiv, aber ist schlecht für die Gesellschaft. Denn unsere Produktivität pro Kopf ist relativ schwach. Deutschland oder Österreich haben mit geringerem Bevölkerungszuwachs Ähnliches erreicht wie wir.

Warum führen wir nicht eine Kurtaxe für ausländische Arbeitskräfte ein, damit sie sich im Sinne einer Kostenwahrheit an dem beteiligen, was unser attraktiver Staat gratis zur Verfügung stellt? Zuwanderung fände weiterhin statt, aber in reduziertem Ausmass.

Die Sogwirkung unseres Landes
Wir müssen unseren ausgebauten Sozialstaat schützen. Langfristig können wir das Leistungsniveau nicht halten, weil die Personenfreizügigkeit nicht finanzierbar ist. Vergleicht man die letzte Sicherung der Sozialhilfe mit dem Durchschnittlsohn unseres europäischen Umlandes, wird erkennbar, warum unser Land eine Sogwirkung erzeugt.

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