«Viele orientieren sich bei Stellen an Sinnstiftung und Sicherheit»

Der Arbeitsmarkt ist im Wandel: Sowohl aufgrund der Nachwehen der Pandemie, als auch wegen des Langzeit-Phänomens Fachkräftemangel. Nicht nur die Ansprüche der Arbeitnehmenden haben sich dabei verändert. Diese Entwicklungen erfährt Tobias Lienert aus nächster Nähe. Er ist stellvertretender Geschäftsführer der Jörg Lienert AG. Die Personalberaterin ist spezialisiert auf die Suche, Selektion und Diagnostik von Fach- und Führungspersönlichkeiten.

Tobias Lienert, stellvertretender Geschäftsführer der Jörg Lienert AG und Niederlassungsleiter Luzern & Aarau. (Bild zvg)

Das Schlagwort Fachkräftemangel wird immer häufiger gebraucht. Welche Probleme entstehen konkret?
Aufgrund unserer Expertise sind wir direkt an der Quelle und dürfen beobachten, dass sich der Fachkräftebedarf je nach Branche und je nach Funktion anders entfaltet. Wir arbeiten täglich mit KMU, Grossunternehmen und Institutionen zusammen, welche alle ihren ganz eigenen, individuellen Bearbeitungs-Ansatz ins Leben gerufen haben. Durch den konkreten Austausch passen wir die Profilaufnahme entsprechend an und generieren dadurch eine Klarsicht, welche dazu inspiriert Lösungen im Fokus zu halten – anstatt Probleme.
 
Welche Branchen sind vom Mangel am stärksten betroffen?

Hier schlage ich erneut vor, nicht nur die Branche, sondern auch die Funktion in die Frage aufzunehmen. Da wir auf die Vermittlung von Fach- und Führungspersönlichkeiten spezialisiert sind, erfahren wir den Bedarf besonders in Baubranche, Informatik sowie Treuhand- und Immobilienbereich. Bei den Funktionen konnten wir Überraschendes beobachten: besonders HR-Leiter:innen sind sehr gesucht. 

Aktuell ist oft von einem Arbeitnehmermarkt die Rede. Was bedeutet das?
Angebot und Nachfrage stimmen nicht überein. Eine Auswirkung davon ist, dass Organisationen dem Employer Branding einen noch stärkeren Stellenwert zuschreiben. Es finden mehr Gespräche statt, neue Ansätze wie z. B. Topsharing werden mit Offenheit diskutiert und mit den Unternehmenswerten abgeglichen. Mitarbeitende erhalten eine aktive und authentische Wertschätzung – welche sie dann innerhalb der Unternehmung weiterleben. Ebenfalls erhalten die Human Resources-Abteilungen mehr Aufmerksamkeit. Die Menschen stehen nun umso mehr im Mittelpunkt.
In Anbetracht eines Mangels vielleicht überraschend, aber für uns absolut sinnvoll: Unternehmen fokussieren sich noch mehr darauf, Funktionen mit den richtigen Personen zu besetzen.

Inwieweit ist dies auf Fachkräftemangel oder Pandemie zurückzuführen? Verstärken sie sich gegenseitig?
Die beiden Phänomene folgen ihren ganz eigenen Logiken. Die Pandemie kam überraschend und brachte viele Unsicherheiten mit sich. Diese sind im Arbeitsmarkt heute noch spürbar – z.B. orientieren sich viele Kandidat:innen bei der Stellensuche an Sinnstiftung und Sicherheit. Der Fachkräftebedarf ist an Komponenten wie Geburtenrate oder demografischer Wandel geknüpft und somit schon seit Längerem ein Thema. Wir beobachten hier, wie zentral es ist, dass die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes mit jenen der Bildungslandschaft übereinstimmen. Eine gegenseitige Überlappung und Beeinflussung der beiden Phänomene im Bereich der Personalselektion können wir durchaus feststellen. Inwiefern sie sich beeinflussen ist für uns jedoch weniger zentral als die Frage, wie wir für Unternehmen und Arbeitnehmende zukunftsgerichtete Wege mitgestalten können. 

Gemeinhin war die Annahme, dass Fachkräftemangel am Schluss mit Migration gelöst wird.
Meiner Meinung nach kann der Fachkräftebedarf nicht mit nur einem Ansatz gelöst werden. Wir beobachten täglich, wie Unternehmen in eine Vielzahl an Förderprogramme, Weiterbildungen oder neue Arbeitsmodelle wie Top- und Jobsharing investieren. Da es sich um ein Phänomen handelt, welches uns voraussichtlich noch eine Zeit lang begleiten wird, gehören Offenheit und Flexibilität zur Lösung dazu.

Wie hat die Pandemie die Ansprüche der Arbeitnehmenden verändert?
Wie bereits erwähnt, sind der Wunsch nach einer sinnstiftenden Tätigkeit sowie das Bedürfnis nach einer sicheren Arbeitsstelle gestiegen. Arbeitnehmende sind bereit zu wechseln, wenn ihre persönlichen Werte mit denen der potenziellen Auftraggeberin noch besser übereinstimmen. Als Beispiel: Gemeindeverwaltungen gelten als sichere Arbeitgeberinnen. Seit der Pandemie konnten wir die Tendenz beobachten, dass sich mehr qualifizierte Bewerbende auf entsprechende Vakanzen melden. Bewerbende zeigen sogar mehr Bereitschaft ihre bisherige Branche zu verlassen und sich an Branchen zu orientieren, welche ihren neuen Vorstellungen gerecht werden. Hier kann der NPO-Bereich als Beispiel genannt werden.

Unternehmen fokussieren sich noch mehr darauf, Funktionen mit den richtigen Personen zu besetzen.
Tobias Lienert,
stellvertretender Geschäftsführer der Jörg Lienert AG

Bei einigen Unternehmen ist zu hören, dass sich das Homeoffice vom Privileg zum Standard entwickelt hat.
Von der Unternehmensseite her ist Homeoffice oft Teil des Employer Brandings. Wobei auf eine sinnvolle Balance geachtet wird: zum Beispiel ca. zwei Tage Homeoffice pro Woche. Neben der Rekrutierung von Fachkräften unterstützen wir Unternehmen hauptsächlich bei der Besetzung von Führungspositionen. Auf dieser Ebene ist das Arbeitsmodell weniger verbreitet. Bei diesen Funktionen wird nach wie vor erwartet, dass die Stelleninhaber:innen präsent sind – dieser Gedanke steht im Fokus. Die Option ist nice-to-have, wird jedoch nur genutzt, wenn die übergeordneten Vorstellungen nicht beeinflusst werden. Einen spannenden Trend möchte ich noch erwähnen: wir beobachten, dass vermehrt Funktionen im Topsharing ausgeführt werden. Unternehmen verschiedener Grösse setzen darauf – auf geteilte Führung und Verantwortung.

Vereinzelt ist zu vernehmen, dass sich auf ausgeschriebene Stellen deutlich mehr Quereinsteiger:innen bewerben.
Wir durften diese Tendenz bei uns ebenfalls beobachten. Besonders der Wechsel von Privatwirtschaft in den NPO-Sektor hat unserer Ansicht nach zugenommen. Die Begründung ist dabei – wie bereits erwähnt – die Sinnstiftung. Doch auch Arbeitgebende präsentieren sich offener und flexibler gegenüber Quereinsteiger:innen – was solche Bewerbungen wiederum fördert

Welche weiteren Veränderungen bei den Ansprüchen der Arbeitnehmenden sind in Zukunft absehbar?
Hier könnte eine Vielzahl an Beispielen aufgeführt werden – gerne möchte ich auf zwei verweisen: einerseits verändern sich die Bedürfnisse im Hinblick auf den Generationenwandel. Unsere Auftraggeber:innen berichten von anderen Erwartungsstrukturen je nach Generation. Andererseits haben die sogenannten Megatrends Einfluss auf die Anspruchsveränderungen. Obwohl die Megatrends auf allen Ebenen der Gesellschaft wirken und somit Unternehmen genauso beeinflussen wie Institutionen und Menschen, ist für uns der Einfluss im Hinblick auf die Personalselektion besonders spannend. Dieser bringt wertvolle Einsichten – sei es aufgrund des Megatrends New Work, Individualisierung oder Silver Society. Als übergeordnete Entwicklungen haben sie direkten Einfluss auf Ansprüche der Arbeitnehmenden.

Beim Wettbewerb um Talente haben Grossunternehmen mehr Ressourcen, wie können KMU hier mithalten?
In der schweizerischen KMU-Landschaft gibt es viele Nischenplayer, welche international führend sind. KMU und Grossunternehmen haben verschiedene Philosophien und die erstgenannten verkörpern einen anderen Fokus: wir erhalten von Bewerbenden z.B. die Rückmeldung, dass sie eine inhabergeführte Struktur schätzen. Sie identifizieren sich mit der hohen Verbindlichkeit und Überschaubarkeit sowie den kürzeren und flexibleren Entscheidungswegen. Ebenso wird die jeweilige Firmenkultur hervorgehoben und die Möglichkeit sich als Generalist:in zu positionieren. Die Geschmäcker sind und bleiben verschieden.

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